Am Mittag brach die Sonne die Tulpenköpfe auf. Den Morgen über hatten sie gezögert, den Tau abperlen lassen wie eine unliebsame Wahrheit. Sehnenabriss.
Sein Zimmer lag zum Garten hin, Blumenflecken und Kiesbeete waren von Plastik-Windrädern durchsetzt. Ab und zu drehten sie sich zwei, drei Mal, für mehr reichte derWind nicht.
Er legte den Arztbrief zur Seite und tastete nach dem linken Arm. Kurz über dem Ellenbogen beulte es. Darunter hing der Rest seiner Bizepssehne wie eine Enttäuschung. Hähnchenflügel, hatte eine alte Frau einmal zu ihm gesagt, auf ihre Haut gezeigt und mit
den Armen gewedelt.
Er war vom Spin-Bike abgestiegen und hatte das Studio verlassen. Zuhause konnte er kaum den Kühlschrank öffnen, das Hühnchen gackerte aus den Tupperdosen.
Frühstück gab es ab acht.
Heute war er eine halbe Stunde später hinunter gegangen. Zwei Stunden im Verzug, normalerweise musste er um sechs Uhr dreißig die erste Mahlzeit zu sich nehmen. Zweihundert Gramm Haferflocken, Eiweißpulver, Beeren zerfielen im Shaker wie ein
schmelzender Eisberg. Nach dem Training dasselbe, dann das Mittagessen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal Appetit gehabt hatte. Er würde warten…
Nichts. Er war die Treppe zu seinem Zimmer wieder hochgestiegen.
Der Coach hatte sich für heute Mittag angekündigt; zwischen ihnen stand bereits jetzt sein leerer Magen.
Sein Coach war kaum älter als er. Er fing ihn am Buffet ab und drückte ihm ohne Begrüßung einen zweiten Teller in die Hand.
„Wir müssen dich oben halten. Scheiße, echt. Ich habe versucht, bei der Klinikleitung anzurufen, drei mal Warteschleife und dann rausgeflogen.“
Der Coach legte vier hartgekochte Eier in ein Salatschälchen, blickte sich um und nahm zwei weitere. „Mach den voll mit Kartoffeln, Reis ist da vorne.“
Er zog den Kopf ein, langte nach dem Schöpflöffel und leerte die Kartoffeln auf den Teller. Er ging einige Schritte weiter, der Reis dampfte. Nur eine Beilage pro Person.
Er wandte dem Schild den Rücken zu. Die Kartoffeln kullerten an den Tellerrand, sein Arm zitterte.
Der Coach war zur anderen Seite gelaufen und kam nun zurück. Neben der Eier-Schale balancierte er einen Teller Fisch. „Ich habe dem Koch an der Ausgabe gesagt, die seien für den ganzen Tisch.“
Er lachte ein bisschen mit, die Forellen ließen ihn nicht aus den Augen.
Sie setzten sich an einen Tisch nahe der Fenster, Brenngläser für die Mittagssonne. Er schwitzte bereits.
Reis, Kartoffeln, Fisch. Immer zwei Gabeln, dann ein halbes Ei, ein Schluck Wasser. Er aß stumm.
„Haben die dich beim Frühstück zurechtgewiesen?“
Er ließ die Gabel sinken und setzte zur Antwort an; der Coach griff sich seinen leeren Teller und stand auf.
„Mir egal, was deren Protokoll ist, wir halten alles wie besprochen. Denken die, du wirst Kohlsuppe schlürfen, wie die Rentner? Butterbrot und Aufschnitt, Seniorenteller?“ Der Coach wandte sich Richtung Buffet, bemerkte die schwebende beladene Gabel, setzte den Teller zurück auf den Tisch und sich auf die Stuhlkante. „Gab‘s heute Morgen wenigstens Haferflocken, oder servieren die bloß Brei?“
Er führte die Gabel zum Mund, kaute, zählte im Kopf bis fünf. Er schluckte, spürte, wie sich sein Kiefer entspannte.
„Ne. Also, keine Haferflocken. Das heißt, ich weiß nicht, ich… kein Frühstück. Es – kein Appetit, irgendwie…“
„Kein Frühstück.“
Der Coach starrte wie die Fische, deren Gräten sich in der Eier-Schale türmten. „Und deine Supplemente?“
Er schwieg.
„Hey Mann, wir müssen jetzt dranbleiben. Du hast noch drei Monate Aufbau im Plan, vorher können wir nicht in die Diät. Du musst Masse bekommen, sonst ist auf der Bühne komplett die Luft raus. Absolut flach, da geht kein Pump mehr rein. Das ist die Men‘s-Physique-Klasse. Wenn es wenigstens erst nächsten Monat…“ Der Coach trat gegen das Tischbein.
„Alle Physio-Zentren sind voll, weil diese beschissenen Fußballer sich jede Woche die Bänder zerren. Für uns haben die nur die Absteige hier. Der Trainingsraum ist ein absoluter Witz.“
Das Pling einer WhatsApp-Nachricht. Der Coach verstummte und zog sein Handy aus der Tasche.
Durchstarten. Immer war davon die Rede gewesen – und von wir.
In den Posts auf Instagram, den Stories, dem Testimonial für die Website. Der erste Sieg bei der Regionalmeisterschaft. Dann Landesmeister. Qualifikation für die Deutsche. Vize- Europameister. Eineinhalb Jahre, für jeweils zehn Minuten auf der Bühne. Sponsoring-Verträge. Alles Teamarbeit. Der beste Athlet ist nichts ohne seinen Coach, hatte er in Kameras versichert.
Aber der Coach hatte noch andere Athleten.
„Das ist jetzt echt eine Ausnahmesituation.“ Der Coach steckte das Handy wieder weg und tippte sich an den Arm. „Wenn die die Sehne wieder zusammennähen, kannst du einpacken. OP, Reha, die lassen dich frühestens in einem halben Jahr wieder trainieren.
Mit Terrabändern.“
Der Coach verzog den Mund. „Dann kannst du gleich bei den Bikini-Mädels an den Start gehen.“
Natural Bodybuilding. So stand es auf seinen Social-Media-Profilen, dahinter eine Reihe von Emojis: Hammer und Pickel, ein Bauarbeiter mit Helm, ein aufgeschlagenes Buch. „Wir sind nicht mehr in den Achtzigern“, hatte der Coach gesagt. „Wir arbeiten mit Wissenschaft, Zielorientierung. Bloß drauf los pumpen bringt keine Erfolge, nicht auf Dauer.“
Ihm folgten zweihunderttausend Menschen auf Instagram, verlinkten Kraft&Köpfchen, wenn sie mit seinen Rabattcodes Eiweißshakes bestellten. Seine Community.
„Ich kenne da einen Arzt“ sagte der Coach, „bis zur Peak-Week sind es noch acht Monate. Wenn wir dich rechtzeitig runternehmen, bleibt nicht mal was beim Pinkeltest übrig.“ Der Coach verschränkte die Arme hinterm Rücken. „Wärst nicht der erste.“
Vor einer Woche hatte sein erstes Meet&Greet stattgefunden. Die Tickets waren nach nicht mal einem Tag ausverkauft gewesen. Es kamen vor allem Jungs, Teenager. Er machte Fotos mit ihnen, unterschrieb Wasserflaschen und Handtücher.
„Danke Mann“, sagte einer, vielleicht fünfzehn. „Du motivierst mich jeden Tag. Der Beweis, dass man mit Disziplin alles schaffen kann. Ich will auch irgendwann so durchstarten. Hundert Prozent natural, Respekt.“
Den Abend hatte er online verbracht. #vorbild. #inspiration. #dreambig. #100%natural – über hundert Beiträge erschienen auf seinem Handybildschirm. Er blickte sich entgegen, sein Arm in Pose angewinkelt, pulsierend: Zum Zerreißen gespannt.
„Nein.“ Er hatte es selbst kaum gehört. „Nein.“, sagte er, diesmal lauter.
Der Coach löste die Arme aus der Verschränkung, ließ sie lose an den Seiten hängen.„Wie, nein.“ Es klang nicht wie eine Frage, denn er hatte nie etwas in Frage gestellt. Sechs mal die Woche Training, sechs Mahlzeiten am Tag, kein Urlaub. Kurz vor dem Wettkampf: Bräunungscreme, Entwässerung, kein Salz. Er hatte alles mitgemacht, sie hatten gewonnen.
„Das mache ich nicht.“ Er rückte den Stuhl zurück und erhob sich, schüttelte noch mal den Kopf. Die Sonnenstrahlen hatten ihren Tisch erreicht, der Coach saß zur Hälfte angestrahlt und doch wie eingefroren. Ein Schweißrinnsal lief ihm in den Ausschnitt. Der Coach zuckte, wischte sich mit der Hand über den Hals. „Dann war‘s das wohl, schätze ich.“
„Dann war‘s das wohl.“, wiederholte er, nickte, drehte sich um.
Durchstarten. Er würde jetzt zur Landung ansetzen.