Eine junge Frau mit braunen Haaren öffnete die Tür zu einem Mädchenzimmer. Dunkelheit. Nur der fahle Schein des Mondes ließ schwache Silhouetten erkennen. Sie schloss die Tür hinter sich zu, den Rücken an die helle Birkentür gedrückt. Nachdem der Frauenschatten das eiserne Schloss einrasten hörte, schritt sie nostalgisch durch das kleine Zimmer und setzte sich auf das Bett unter dem Dachfenster. Ein Griff unter das Kopfkissen brachte ein Tagebuch hervor. Sie tastete sich an den Nachttisch und drückte den Knopf. Die Glühbirne der Schreibtischlampe hüllte das Bett in warmes Licht und ließ den weinroten Einband mit der Aufschrift „Mirais Tagebuch“ erscheinen. Eine zierliche weiche Hand blätterte auf die letzte beschriebene Seite:
„Liebes Tagebuch, glaubst du an Schicksal? Es war 23:27 Uhr, als mein Zug am Ludwigshafener Hauptbahnhof durch einen Oberleitungsschaden zum Stehen kam, und das eine Station vor meinem eigentlichen Ziel. Ich musste nach Hause laufen. Die Nacht war still und die Straßen leer, als ich das Bahnhofsgebäude Richtung Berliner Platz verließ. Ich nahm die ersten Wohnungen in der Kaiser-Wilhelm-Straße wahr: in manchen brannte Licht, in einer saß sogar eine Familie zusammen am Tisch und aß zu Abend. Von fünf Stühlen waren vier besetzt. Ich war nicht der einzige Beobachter an diesem Abend: Ein lichtblaues Wesen, der Kopf geformt wie der eines Embryos, klopfte gegen die Scheibe des Wohnungsfensters, es schien zu hungern und zu frieren. Doch niemand konnte es hören oder gar sehen, denn es war kein Teil dieser Welt mehr. Ich lief weiter und traf auf Jugendliche in meinem Alter, an einem Stromkasten lehnend. Ihre Münder waren trocken, ihre Arme dürr. Tabletten und Spritzen konnten sie nicht mehr retten, ihr Gesicht wurde gestohlen. Ein paar Meter weiter waren weitere Jugendliche: die Krater im Gesicht vertieften sich von Person zu Person. Ihre Gesichter verblassten Stück für Stück in der Dunkelheit. „Sie leiden genauso wie wir“, sprach eine raue Mädchenstimme hinter mir. Ich nickte. Sie trat vor mich und setzte sich zu einer weinenden Türkin dazu: „Was liegt dir auf dem Herzen? “, fragte sie betroffen und ehrlich. Zu meiner Überraschung schüttete die Leidende ihr das Herz aus, eine halbe Stunde lang, und umarmte sie dankbar im Anschluss daran. Die Worte „Ich lasse dich nicht im Stich“ gaben ihr neuen Mut weiterzuleben. Ich starrte fasziniert auf die Zuhörende, ich wollte so sein wie sie. Als sich die beiden trennten, kam sie erneut auf mich zu und bot mir an, mit ihr als Sozialarbeiterin unterwegs zu sein und den Menschen ihr Gesicht zurückzugeben. Ich willigte ein. Ein Herzensprojekt. An diesem Abend hörten wir aufmerksam vielen weiteren Lebensschicksalen zu und gingen mit dem Gefühl, etwas verändert zu haben, schlafen. Ich träumte in dieser Nacht von einer neuen Welt, in der es keine Grenzen gibt und jeder Mensch versucht, sein Gegenüber zu verstehen. Danke, dass du mir zuhörst, liebes Tagebuch.“
Die Dame im Mädchenzimmer lächelte, als sie das las. Ihre sanften Finger schlugen die Seite um: Es wurde etwas herausgerissen! Eilig griff sie in den Papierkorb und fand ein zerknülltes Blatt Papier. Sorgsam faltete die Frau das Blatt auf und strich es glatt, bis sie alles lesen konnte:
„Liebes Tagebuch, warum will niemand diese Kinder verstehen? Warum zeigen die Menschen keine Empathie? Seit dem letzten Eintrag sind inzwischen zwei Monate vergangen. Ich und meine Freundin Azami, die ich dir im letzten Eintrag vorgestellt habe, wenden uns momentan schon an die Eltern der Kinder. Denn nach jedem aufmunternden Gespräch mit alleingelassenen Kindern kamen sie am nächsten Tag mit den gleichen Schmerzen wieder zurück an ihren Platz. Niemand wollte ihnen glauben oder zuhören. Auch uns wollte keiner glauben. Egal, ob wir mit einem Ausweis der Stadt vor der Tür standen oder nicht. Immer wurde uns überzeugt und ignorant, ja fast schon aggressiv mitgeteilt: „Ihr habt doch keine Ahnung, was Depressionen sind, ihr seid noch zu jung. Meiner Tochter/ Meinem Sohn geht es gut, ihr/ihm fehlt nichts! Haltet euch bitte von ihr/ihm fern, ihr seid kein guter Umgang für sie/ihn!“ Warum? Warum verschließt ihr eure Augen vor der Realität? Warum tötet ihr eure Kinder? Ist euch euer Stolz wichtiger? Azami kämpft trotzdem gegen jeden Widerstand weiter, weil sie an die Menschen glaubt, doch mittlerweile fehlt ihr immer mehr die Kraft weiterzukämpfen. Sie sieht die scharfen Rasierklingen und auch die schmerzerlösenden Ibuprofen-Tabletten in den Zimmern der Gesichtslosen. Ein Friedhof zieht sich durch die Straßen Ludwigshafens und sammelt die verlorenen und im Stich gelassenen Seelen ein, die im Tod ihre Befreiung finden. Wir stehen ihm gegenüber und können ihn nicht aufhalten. Wir können nicht mehr. Es ist vorbei. Wir haben versagt.“
Eine Träne kullerte über die kalte Wange der Lesenden. Sie blätterte zur nächsten Seite und setzte den Stift an:
„Liebes Tagebuch, mein Herz krampft in meiner Brust und der Kloß in meinem Hals lässt mich vor Traurigkeit ersticken. Morgen wird meine kleine Tochter Mirai beerdigt und ich weiß mir nicht zu helfen. Der Anruf letzte Woche kam plötzlich, ohne Vorahnung und zerbrach meine Welt in tausend kleine Stücke: die Polizei konnte Mirais Leiche identifizieren. Sie warf sich zusammen mit einer Freundin vor einen Zug. Der Abschiedsbrief verwies auf dich. In dir soll sie eine Botschaft für mich hinterlassen haben, deswegen bin ich hier. Ich verstehe nicht, warum die Menschen mir meinen kleinen Engel nehmen mussten. Warum kümmert ihr euch nicht um eure Kinder, sie schreien um Hilfe?! Sie betteln um ein offenes Ohr, ein bisschen Zeit und Verständnis. Warum lasst ihr eure Kinder sterben? Für mich war mein Kind immer das Wichtigste im Leben, ich wollte immer nur das Beste für sie. Ihr wolltet bestimmt auch immer nur das Beste für eure Kinder, oder? Das Beste für eure Kinder wäre Zeit. Zeit, in der sie mit offenen Armen empfangen und geliebt werden. Arbeit und die Gier nach immer mehr Geld nehmen uns die Menschlichkeit und das Gespür für Empathie. Statt Vergebung ist die moderne Devise Rache, als Form der Gerechtigkeit. Doch wenn Rache Gerechtigkeit ist, dann bringt Gerechtigkeit nur noch mehr Rache und wir finden uns in einem nie mehr endenden Teufelskreis wieder, indem sich jeder aus Selbstschutz zurückzieht. Wir sehen über die Opfer dieses Systems hinweg, um uns nicht schuldig fühlen zu müssen. Doch schuldig ist, wer anderen aus Eigennutz nicht hilft. Sie sehen uns und warten auf Hilfe. Der Tod meiner Tochter wird nicht umsonst gewesen sein. Wir werden zusammen alle retten. Mit dem Gedanken unsere Kinder in eine bessere Welt zu setzen, in eine Welt, in der sie glücklich leben und nicht schon im Alter von 16 Jahren von ihren Eltern im Sarg zu Grabe getragen werden müssen, können wir zusammen als Gesellschaft durchstarten. Lasst uns all unseren Mitmenschen mit einem offenen Ohr begegnen, sodass sie nicht allein sein müssen. Dafür sind wir verantwortlich. Ich werde für deine Träume kämpfen, mein Engel.“
Die weinende Mutter legte das Tagebuch zur Seite und verließ das Zimmer. In der Stille schlängelte sich ein leichter Windhauch durch das Zimmer von Mirai und schlug die Seiten des Tagebuchs bis zum hinteren Teil des Einbands um. In der unteren rechten Ecke erschien: „Ich liebe dich Mama.“