Lebenslotterie
Die Straßen sind kalt. Klamm, leergefegt, gefroren. Seine Schritte vorsichtig. Bedacht, um nicht auf gefrorenen Stellen zu rutschen. Die Nacht wird noch kälter werden. Hoffentlich nicht seine letzte. Wie die von so vielen. So viele Tote, Nacht für Nacht. Freunde, Bekannte auf einmal hinweggerafft. Steif, totgefroren. In den Decken gewickelt, auf der Flucht vor dem nahenden Tod.
Seine Schritte hallen gespenstisch von den Häuserwänden wider. Hinter den Wänden: Familie, Geborgenheit. Vor den Wänden: Todesangst, Kälte. Er reibt seine versteiften, rauen Hände aneinander. Die halbfinger Handschuhe bieten keinen Schutz. Er ist sich bewusst, dass diese Nacht nur noch das Spiel der Lebenslotterie ist, die über Leben und Sterben entscheidet. Der Nullpunkt ist unterschritten. Ein paar Straßen weiter wartet nur eine Decke. Schutzlos. Die ganzen Straßen, umsonst durchlaufen für weniger als einen halben Becher Zwiebelsuppe. Lauwarm, geschmacksarm.
Er seufzt leise, einem Schneehaufen ausweichend. Man kann ein Loch in seinen Turnschuhen sehen, dass nur notdürftig mit Klebeband überklebt wurde. Er hat Angst. Das Ende rückt näher, er will nicht daran denken. Hat er nicht letztens noch etwas Betäubendes angedreht bekommen? Das Ende nicht erleben. Es wäre vorbei, bevor es vorbei wäre. Aber tief innen weiß er, dass er das nicht will.
Er überquert eine Kreuzung. In der nächsten Unterführung haben sich Bekannte niedergelassen. Noch friedlich, aber wenn die Kälte dich dem Tod in die Arme treibt, wird das manchmal schwer. Wenn man weiß, wie viele Menschen Zuhause sitzen, ohne einen Gedanken an die ohne Zuhause zu verlieren. Keine Autos sind zu sehen, als er grüßend die Hand hebt. Vielleicht das Letzte mal? Ein hässlicher Gedanke. Er schwebt über jedem Schritt, jedem Atemzug. Die Ampel ist rot, er überschreitet sie, als ob sie grün wäre. Nur Farben. Blaugefrorene Lippen. Während des Gehens haucht er in seine Hände und reibt sie aneinander.
Bewegen. Nicht stehen, liegen, sitzen. Bewegen. Und doch zieht es ihn zurück. Zurück zu der ärmlichen, verdreckten, harten Matratze, die er sein Eigen nennt. Um zu sterben? Herauszukommen aus all dem Elend? Hässliche Gedanken. Unerwünscht. Er fängt an zu humpeln. Kaputt. Einfach kaputt vom Leben. Der Gesellschaft.
Der Wind treibt ihn vor sich her, durch eine unbeleuchtete Straße. War der Weg so lang? War der Weg so kurz? Der Wind ist kalt, so kalt. Kalt wie die Menschen, die im Warmen sind. Er sieht unbeholfen, hilflos, bedürftig aus. Seine Schuhe zu klein, die Kleider zerlumpt, das Gesicht zerfurcht, das Herz zerbrochen. So viele Straßen noch? So wenige Straßen noch? Für einen halben Becher Zwiebelsuppe. Keine Decke. Nichts. Nur ein halber Becher Zwiebelsuppe. Lauwarm, geschmacksarm.
Eine Gleichgültigkeit überschwemmt ihn, als es wieder anfängt zu schneien. Er bleibt stehen. Die Flocken, weiß aus Eis, setzten sich auf Schultern, Schiebermütze, Nase.
Die Lebenslotterie hat entschieden. Man kann ihr nicht davonlaufen, nein. Langsam setzt er einen Fuß vor den anderen. Entschieden für seinen Tod. Ein halber Becher Zwiebelsuppe, keine Decke, kein Bett. Der Tod. Eine Träne läuft durch die Furchen seines Gesichts. Warum weinen. Der Tod hat kein Erbarmen.
Er läuft weiter. Die letzte Ecke. Er blickt auf. Sein Schlafplatz scheint leer. Doch auf der Matratze liegt mehr als seine dünne Decke. Er geht noch einen Schritt auf sie hinzu.
Unverhofft, ein Schlafsack. Eine Thermoskanne. Er sinkt neben der ärmlichen, verdreckten, harten Matratze zu Boden. Unverhofft wurde er gerettet. Menschen haben Erbarmen.
Ein Lächeln lässt sein zerfurchtes Gesicht erstrahlen, in der dunklen, klammen Nacht. Unverhofft hat die Lebenslotterie entschieden. Und vielleicht gibt es ja mehr dort draußen als eine Lotterie.
Unverhofft wurde ihm das Leben geschenkt. Dieser Winter würde unverhofft nicht sein letzter sein.