In memoriam Maj Sjöwall (+ 29.4.2020)
Beim Ausbaggern einer Schleuse wird die Leiche einer jungen Frau gefunden. Es dauert Wochen, bis ihre Identität festgestellt ist, und Monate, bis Martin Beck und sein Team eine Spur zum Täter finden. Ein 8-mm-Film gibt schließlich entscheidende Hinweise … Ein Krimi aus einer alten Welt: auf dem Schreibmaschinentisch eine alte Remington, Anrufe aus der Telefonzelle, Telegramme aus Amerika. Gestrickt nach einem alten Muster, könnte man meinen.
Aber Sjöwall und Wahlöö schreiben 1965 nur scheinbar einen simplen Who-done-it-Krimi. Sie verfolgen – so Henning Mankell – die “radikale Absicht”, mit ihrer Romanreihe einen “Spiegel der schwedischen Gesellschaft” zu schaffen: Kriminalliteratur als gesellschaftskritisches Erzählen, ein neuartiges Projekt.
Martin Beck ist in seiner Zeit ein Ermittler ganz neuer Art: Kein hochgebildeter Intellektueller wie Sherlock Holmes, der mit wissenschaftlicher Präzision fast maschinengleich Fall um Fall löst und, “finanziell unabhängig”, in seiner Freizeit eine millionenteure Stradivari spielt. Kein superintelligenter, in allen Polizeipräsidien der Welt geschätzter und bewunderter, stets von sich selbst überzeugter Hercule Poirot (“My name is Hercule Poirot and I am probably the greatest detective in the world”). Auch kein leicht heruntergekommener lonesome-wolf-Privatdetektiv.
Beck ist ein Polizeibeamter, der sich eher als Teamarbeiter denn als Chef versteht, beharrlich, logisch denkend, ruhig, professionell. Und er ist ein Mensch wie tausend andere: Er leidet ständig an Erkältungen, er leidet an seiner Ehe, von Kaffee und in der U-Bahn wird ihm übel und “außerdem schoss er sehr schlecht“.
Er bewegt sich nicht in abgeschlossenen Upper-class-Welten, auf Nil-Luxusdampfern oder im noblen Orientexpress, sondern in großstädtischen Bahnen und Bussen, macht zeitraubende, anstrengende Dienstreisen durch halb Schweden und bis in die USA.
Auch die anderen Figuren der Geschichte sind keine außergewöhnlichen Menschen, sondern realistisch gezeichnete Personen in einer alltäglichen Welt: der Staatsanwalt, der sich bei der Pressekonferenz von einer inhaltsleeren Aussage zur nächsten windet (“Die meisten Verbrechen stellen anfangs ein Rätsel dar.”), die junge Zeugin, die Angst hat, ihr Mann könne etwas von ihrem – sehr zurückhaltenden – erotischen Leben vor der Ehe erfahren (wir sind im Schweden der ersten Hälfte der 60-er Jahre!), der Verdächtige, der, privat und beruflich, ein Leben in unendlicher Einsamkeit und Tristesse lebt.
Und auch Mörder, stellt Beck fest, “sind ganz gewöhnliche Menschen, nur unglücklicher und unangepasster.”
Mit ihrer zehnbändigen Reihe – Die Tote im Götakanal ist der erste Band – revolutionieren Maj Sjöwall und ihr Lebensgefährte und Kollege Per Wahlöö in den 60-er und 70-er Jahren den schwedischen Kriminalroman. Mit ihrem Verständnis von Kriminalliteratur als gesellschaftskritischem Erzählen legen sie den Grundstein für die zeitgenössische skandinavische Kriminalliteratur. Die Romane etwa von Håkan Nesser oder Henning Mankell sind ohne ihre Vorarbeit nicht denkbar.
Henning Mankell im Vorwort der Neuausgabe über seine erste Lektüre des Buchs vor Jahrzehnten: “Ich glaube, es war eine Offenbarung.“
Unbedingt (wieder) lesen!
Per Wahlöö ist 1975 gestorben. Maj Sjöwall starb im Alter von 84 Jahren am 29. April 2020.
neu übersetzt von Hedwig M. Binder
mit einem Vorwort von Henning Mankell
Das schwedische Original erschien 1965, die ersten Übersetzungen ins Deutsche 1968 (BRD) und 1981 (DDR)
Rowohlt, Neuausgabe 2008, 6. Aufl. 2017
ISBN 978-3-499-24441-4
9,99 €