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1. Preis 2021
Edda Nieber, Unverhofft kommt

Unverhofft kommt…
Eisig weht der Wind, pfeift um die Ecken, rüttelt am kleinen roten
Haus. Nebel liegt über dem See, dessen Wellen hektisch gegeneinander
schlagen. Die sonst so friedliche spiegelglatte Wasseroberfläche ist
aufgewühlt. Nebel mischt sich mit Wasser, Wasser mit Wind, Wind mit
Nebel. Dicke Tropfen, vermischt mit vereinzelten Schneeflocken
prasseln gegen die kleinen Fenster des alten Hauses. Kälte, Nässe und
Wind dringen durch die Ritzen in die Räume ein und verwüsten die gute
Stube.
Vor dem Kamin, dessen Feuer längst erloschen und dessen Glut längst
erkaltet ist, steht ein Schaukelstuhl, ebenso in die Jahre gekommen
wie der Mann, der darin sitzt. Eine graue Wolldecke liegt auf seinen
Knien und würde er nicht von Zeit zu Zeit zittern oder sich die Hände
reiben, würde man nicht den Wind um das Haus wehen und den Regen
gegen die Fenster trommeln hören, dann könnte man fast meinen, diesem
Mann sei überhaupt nicht kalt.
Mit verbissenem Blick und gefalteten Händen stiert er geradeaus, als
könnte er die wohlig wärmenden Flammen noch sehen, deren spielenden
Tanz noch verfolgen.
Völlig gebannt schaut er, Bjarne Anderssen, in diesen Kamin, dessen
wohltuende, ausfüllende und heimelige Wärme er so gerne gespürt hat.
Sie war in ihn eingedrungen, hatte seinen Körper, seine Seele, zum
Leben erweckt, gewärmt und aus ihren eisigen Verstecken gelockt.
Dort am Feuer, dort hatte er immer die tollsten Einfälle, die besten
Ideen. Dort konnte er seinen Gedanken freien Lauf und seinen
Erinnerungen wieder Raum geben. Dort konnte er träumen, spekulieren,
lachen und grübeln.

Unverhofft kommt…
Wie oft hatte er sich vorgestellt, wie er eines Tages mit seinen
Kindern oder Enkeln dort vor dem Kamin sitzt, ihnen Geschichten
erzählt bis sie einschlafen, mit ihnen tobt und spielt und kuschelt.
Wie oft hatte er, Bjarne Anderssen, der nachdenkliche, unsportliche,
nicht tanzen könnende Bjarne Anderssen, sich vorgestellt, wie er dort
vor dem Kamin seine Frau in den Armen hält, sich mit ihr ihm Takt
eines langsamen Walzers wiegt und sie durch die Lüfte wirbelt.
Wie oft hatte er schon Holz nachgelegt, die Flammen neu entfacht, nur
damit diese Gedanken, diese Vorstellungen und Träume, vielleicht doch
irgendwann passierten. Denn wie soll man Kindern vor dem prasselnden
Feuer Geschichten erzählen, wie in der wohligen Wärme mit der Frau
seiner Träume tanzen, wenn das Feuer längst erloschen ist?
Ja, Träume! Bloß Träume. Es würden wohl immer nur Träume bleiben…
Nach 87 Jahren ohne Frau, geschweige denn Kinder oder Enkel, hatte
Bjarne die Hoffnung aufgegeben. Selbst der Hund, der seinerzeit mit
Bjarne vor dem Ofen saß, seinen dicken Kopf auf dem Sessel, war schon
lange nicht mehr. Wozu das Feuer also noch brennen lassen, wozu die
öden Flammen das Zimmer noch wärmen lassen?
Seine Gedanken konnten sie schon lange nicht mehr erhellen. Tag für
Tag saß Anderssen da, blickte in die Asche des eins munter lodernden
Feuers seines Lebens und fragte sich, wann auch er endlich erlöschen
und zu Asche werden würde.
Wozu noch dort sitzen? Allein. Griesgrämig. Alt.
An jenem Abend, an dem der Wind so eisig weht, der See sich so
aufgewühlt mit dem Nebel vermischt, der nun vollends zu Schnee
gewordene Regen die Sicht verdeckt, da fasst Anderssen einen
Entschluss.

Unverhofft kommt…
Langsam, die Arme auf den Lehnen sich abstützend, steht er auf. Er
spürt seine alten Knochen, die Gelenke, wie sie schmerzen. Auf dem
Weg in die Garderobe sieht er sich in dem großen dunklen Wandspiegel.
Sich, diesen Greis, der durch das ganze Sitzen im Schaukelstuhl ganz
steif geworden ist, dessen einst so schönes blondes Haar jetzt
struppig und weiß ist und dessen Mundwinkel faltig nach unten hängen.
Wer ist dieser Mann? Denkt Bjarne, bevor er sich zusammenreißt und
weitergeht. Er öffnet seinen alten Kleiderschrank, der beim Öffnen so
laut knarzt wie seine Gelenke, und sucht seinen feinsten Anzug
heraus. Der Smoking, den er sich damals für seine nie stattgefundene
Hochzeit gekauft hatte, ist an manchen Stellen von Motten zerfressen,
aber wen stört das schon?
Ächzend kleidet er sich ein, so schön hat er sich lange nicht mehr
gemacht, und bis auf ein paar Knöpfe seines Hemdes, die er an seinem
Bauch nicht ganz zu bekommt, weil der Stoff dort etwas spannt, passt
der Anzug noch erstaunlich gut.
Nur Schuhe hat er keine passenden, also behält er seine warmen
Filzpantoffeln an, bindet sich einen Schal um den Hals und öffnet die
Eingangstür.
Ein Windstoß begrüßt ihn und weht eine Ladung Schnee vor seine Füße.
Noch einmal dreht Bjarne sich um, prüft wie immer aus Gewohnheit, ob
der Kamin auch wirklich aus ist, erinnert sich dann wie immer, dass
er schon seit Jahren nicht mehr gebrannt hat, und setzt einen Fuß vor
die Tür.
Der frisch gefallene Schnee knirscht verlockend unter seinen
Filzpantoffeln. Er lässt die Haustüre offen, kalt ist es im Haus
sowieso und vielleicht findet so ja noch ein Tier einen Unterschlupf
darin.

Unverhofft kommt…
Mit großen, erst unsicheren, dann immer schneller werdenden Schritten
geht Bjarne los Richtung See. Noch immer spielt der Wind mit den
Wellen, doch es ist eher ein Tanz als ein Kampf. Die Wellen tanzen
miteinander, den Wind eng umschlungen, finden einen Takt, in dem sie
sich aufbäumen und brechen, sich aufbäumen und brechen…
Immer schneller läuft Bjarne auf die im Tanz verlorenen Wellen zu,
seine Schritte passen sich ihrem Takt an. Er will eins werden mit den
Wellen, mit ihnen tanzen. Bis sie das Feuer in ihm löschen, ihn zu
nichts als kalter Asche machen. Bjarne rennt jetzt dem See, seinem
Ende, entgegen.
Es sind nur noch wenige Schritte bis zum Ufer, als Bjarne innehält.
Es hat aufgehört zu schneien, durch die dicke Wolkendecke kämpft sich
die Sonne langsam nach vorne. Etwas in ihm bewegt ihn zum Hinsetzen,
er sitzt auf der von Regen und Schnee nassen Wiese und schaut sich
um.
In den ersten Sonnenstrahlen, die sich durchkämpfen konnten, glitzert
der See. Am anderen Ufer sieht er einen Elch, der gerade dabei ist,
sich den letzten Schnee aus dem Fell zu waschen.
Bjarne sieht sich um, sieht hinter ich sein Haus, ganz friedlich und
klein, so weit ist er gelaufen.
Die Sonne hat es geschafft, sich vollends vorzuschieben und zwischen
den letzten weißen Wolken spiegelt sich im See ein Regenbogen, dessen
Ende im Wald zu verschwinden scheint.
Es weht eine leichte Brise, Vögel zwitschern, Bjarne entdeckt erste
Blumen am Seeufer und obwohl er etwas fröstelt – seine Filzpantoffeln
sind nicht unbedingt für diese Witterung geeignet – umgibt ihn ein
Gefühl, dass er lange nicht mehr, vielleicht noch nie gespürt hat.

Unverhofft kommt…
Ein leichter Wind weht, pfeift um die Ecken, rüttelt sacht am kleinen
roten Haus. Golden glänzt der See und kleine Wellen kräuseln sich,
spielen, tanzen und vermischen sich mit der klaren Luft.
Rauch steigt aus dem Schornstein des kleinen Hauses auf. Im Kamin
brennt ein kleines Feuer, gerade groß genug, dass es den Raum
ausreichend wärmt.
Vor dem Kamin, dessen Feuer so lange erloschen und dessen Glut so
lange erkaltet war, steht ein Schaukelstuhl, ebenso in die Jahre
gekommen wie der Mann, der darin sitzt. In eine graue Decke gehüllt,
die Hände gefaltet, die Augen geschlossen. In seinem, Bjarne
Anderssens Gesicht ein leises, ungewohntes, schüchternes, aber
eindeutiges Lächeln.