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3. Preis: Janna Gehring, Ein normaler Tag in Quarantäne

Wie lang ich schon zu Hause eingesperrt bin? Keine Ahnung, es fühlt sich auf jeden Fall so an, als säße ich seit Jahren alleine hier rum und müsste mit den immer gleichen Spielsachen spielen, was mit der Zeit echt gar keinen Spaß mehr macht. Meine Eltern sind zwar auch die ganze Zeit zu Hause, sind aber irrsinnig beschäftigt mit irgendwelchen Dingen von ihrer Arbeit.  Nur mittags, wenn das Essen auf den Tisch gestellt wird, kommen alle angerannt, als gäbe es viel zu wenig zu essen und voller Angst, irgendjemand würde ihnen etwas wegfuttern. Naja, irgendwie hat ja auch niemand von uns Jüngeren so richtig etwas zu tun … Wir müssen uns ständig alles teilen und immer gehe ich als Jüngste leer aus, weil ich noch nicht so stark und schnell bin wie meine zwei großen Brüder. Die beiden sind auch keine wirklich guten Spielpartner: Sie sind immer so aufgedreht, weil wir wenig Platz hier in unserer Wohnung haben und uns nicht richtig austoben können. Denn hier darf niemand raus.

Ich vermisse meine Großeltern schrecklich, und wenn ich mal frage, wann wir sie wieder treffen, antwortet Mama immer nur: „Zurzeit nicht, Schätzchen, jetzt erst einmal eine Zeit lang nicht“. Immer abends, bevor das Licht ausgeht, kommt ein seltsam gekleideter Mann mit einem blauen, langen Kleid zu uns. Auf dem Kopf trägt er eine lustige Haube und sein Gesicht versteckt sich hinter einem großen Mundschutz. Jeden Abend misst er bei uns Fieber, mit seinen großen, in blaue Gummihandschuhe verpackten Händen. Bis jetzt hatte noch keiner von uns eine ansatzweise erhöhte Körpertemperatur, aber diesem blauen Mann ist es unglaublich wichtig, das alles genau zu dokumentieren, und zwar jeden Tag. „Zieh deine Schutzbrille an, Chris“, sagt er manchmal zu seinem etwas schlankeren Kollegen. „Wann diese Krise wohl vorbei ist“ oder „Nicht einmal mehr Freunde darf man treffen, die Regierung sperrt uns echt komplett ein.“ Ich wusste gar nicht, dass dieser Mann auch in einem Käfig wohnt. Danach kommt er mit seinem Stethoskop und hört unsere Atemwege ab, als letztes fühlt er noch unseren Puls. Das ist am allernervigsten, weil er manchmal echt lange braucht, bis er ihn gefunden hat und ihn zuverlässig spürt. Wenn er alle durchhat, packt er seinen Koffer wieder und geht. Danach ist es wieder ruhig bei uns im Affenhaus, und mir bleibt wieder nichts anderes übrig als immer dieselben vier Wände anzustarren.

Ach, ich bin übrigens Lilly und 7 Jahre alt. Ständig geben mir die Leute willkürliche Namen wie „Herr Nilsson“ oder „Coco“, doch eigentlich steht auf unserem Türschild, dass ich Lilly heiße. Trotzdem finde ich das immer total lustig, wenn sie mich anders nennen. Ich lebe in einem kleinen Zoo in Deutschland. Ja, klein trifft es ganz gut, denn ich verbringe mein komplettes Leben hier auf diesem kleinen Raum. Ich habe keine Freunde, nur nervige Brüder. Ich kann aber auch keine echten Freunde finden, da jeden Tag andere Leute vor unserem Gehege stehen bleiben, uns kurz begaffen – ähm, Moment mal, hat begaffen etwas mit Affen zu tun oder machen die Besucher das bei den anderen Tieren genauso? Ach egal, da sie ja sowieso sofort danach auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

Wenn ich Max, unseren Tierarzt, so reden höre, bekomme ich immer schlechte Laune, weil er dann bei Chris rumpienzt, dass seine Bowlinggruppe auf ungewisse Zeit ausfällt. Was auch immer dieses Bowling sein soll, denkt hier eigentlich noch irgendjemand an uns? Ist hier vielleicht irgendjemand noch nicht so krass auf sein eigenes anscheinend so plötzlich ruiniertes Leben fixiert, dass er mal an die denken könnte, die so ihr ganzes Leben verbringen müssen?! Ihr beschwert euch, dass ihr nur noch zum Einkaufen euer Haus verlassen dürft? Ha, einkaufen, alleine aussuchen, was ich essen möchte? Das wäre ein guter Anfang. Wir Zootiere müssen ständig das essen, was ein Mensch für uns auswählt. Wie soll denn ein Mensch wissen, was mir schmeckt? Und raus? Einmal etwas anderes sehen außer die eigenen vier Wände? Ihr haltet das gerade nicht einmal drei Wochen aus, wie könnt ihr es dann wagen, uns unser ganzes armes Leben so zu behandeln?

Ja, ich weiß, von uns gibt es nicht so viele wie von euch Menschen. Und ja, ich weiß auch, dass ihr euch groß auf die Fahne schreibt, dass ihr uns aus Nachhaltigkeitsgründen nach Deutschland geholt habt, weil wir in unserem normalen Zuhause nur noch schwer überleben könnten. Doch passiert euch nicht momentan genau das gleiche? Um eure Art zu schützen, werdet ihr in Quarantäne eingesperrt. Doch tut euch das wirklich gut? Ihr sagt doch selber, dass euch viel zu langweilig ist und ihr viel zu wenig Platz habt.

Dürft ihr uns Tiere, die wir keine Stimme haben, mit der wir laut protestieren können, einfach aus unserer Heimat holen? Einfach einsperren und dann behaupten, ihr seid unsere großen Retter? Es gibt ja auch Rettungsstationen für hilflose Tiere, die dann aber wieder ausgewildert werden. Doch das kann man hier in Deutschland ja vergessen.

Denk bitte einmal darüber nach, was du für dich als artgerecht empfindest, und versuch dich einmal in uns stimmlosen, ungefragten Tiere hinein zu versetzen, und überleg dir dann einmal, was wirklich artgerecht wäre.

Oh, ich muss los, Chris versucht, mich aus meinem Geheimversteck zu ziehen. Mal gucken, ob ich es ihm heute leicht mache, mich abzuhören, oder ob wir erst einmal eine Runde Fangen spielen.