Den Baum der Gewohnheit entblättern

Kurze Geschichten, prosaische Tiefen, im Alltäglichen schlummernde Geheimnisse

zwischen Trug und Wirklichkeit – Bernd V. Erntings „Unterwegs in blauen

Irrgärten“ gleicht einem Roadmovie, erzählt in diversen Kurzfilmen, das lange

nachwirkt im Kopf-Kino der Lesenden.

Rasante Wechsel in Tempo und Taktzahl seiner Szenen-Schnitte, der Dialogregie

nehmen die grauen Bilder des Alltags auf und verwandeln sie in exotische

Farbmuster. Den Protagonisten ist nichts Menschliches fremd, ihre Schwächen

werden zu ihren Stärken; in umgekehrter Weise mutiert das scheinbare

Riesengroße zur Einsicht menschlicher Bescheidenheit im Kleinen.

In der Geschichte „Hennessee Williams“ schimmert ein mögliches ‚alter ego‘ des

Autors hindurch: sie erzählt von der tristen Realität vieler Autoren, die alles lesen,

die viel schreiben, und doch haben sie bei überraschender Qualität ihrer Texte

kaum eine Chance, im hiesigen Literaturbetrieb Gehör bzw. einen Verlag zur

Publikation zu finden. Was ihnen bleibt sind oft kleine, spärlich besuchte Lesungen

in den Cafés der Provinz – en passant.

Lebensnahe Erzählstränge führen die Leser zu den sogenannten Außenseitern, die

nicht außen, die im Innern des Geschehens einen Logenplatz einnehmen –

Bernd V. Ernting gelingt es, diesen ‚Persönlichkeiten‘ Würde und Respekt

entgegenzubringen, ohne ihr Sinnen und Streben bloßzustellen – er hält ihr Wirken

in der Schwebe und überlässt das Bewerten der subjektiven Betrachtung den

Lesenden.

Bernd V. Ernting ist mit seinem an menschlichen Facetten reichen Buch

„Unterwegs in blauen Irrgärten“ ein Kaleidoskop von unterschiedlichen

Erzählungen gelungen – wie in der Geschichte „Philipp K. hört das Rauschen des

Ohios“ – mit überraschenden Wendungen versehen, z.B. dort als Metapher erklärt,

dass der „gute Fluss“ Ohio keine eigene Quelle hat, sondern seine Vereinigung aus

zwei selbständigen Flüssen entsteht.

Die Leser dürfen sich getrost mit Bernd V. Erntings Geschichten unterhaken, seine

sprachwitzigen Erzählungen führen nicht in die Irre, vielmehr begleiten sie uns in

den Garten menschlicher Begegnung. Dessen Blau ist vielseitig konnotiert ist und

verbindet letztlich: das erdgeistige Grau mit dem kosmischen Blau.

Manfred Klenk