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2. Preis 2021
Viktor Meier, Die Omi aus Zehlendorf

Die Omi aus Zehlendorf

02. Januar 2021
Ich gehe raus, es wird dunkel, und die einzigen Leute, die auf der Straße herumlungern, sind diese Fahrradfahrer mit ihren viel zu großen quadratischen Lieferboxen auf dem Rücken. Das sieht doch lächerlich aus, aber irgendwie juckt das die Leute nicht, wenn sie auf „Bestellen“ drücken. Und mich genauso wenig. Bald kann man bestimmt in wenigen Stunden eine Einbauküche bestellen, vielleicht bald auch eine Ladung an schönen Emotionen in weniger als 10 Minuten. Stell dir das mal vor, der Lieferant holt aus seinem riesigen Quader eine etwas kleinere Box heraus und sagt: „Sooo hier haben sie Ihr bestelltes Dopamin und schöne Erinnerungen an Ihre Kindheit. Schönen Abend!“, und dafür bekommt er dann freche 20 Cent Trinkgeld.

Der Tagebucheintrag, den Barnabas kurz nach Neujahr verfasste, klang zugegebenermaßen ernüchternd und kalt. Vielleicht kam es auch von seinem Alkoholstimmungstief, das seit Silvester nicht nachließ, welches aber normalerweise nach heute Abend nachlassen sollte. Seine Eltern luden ihn zum Steakessen ein.
Er hatte seit 3 Monaten kein Fleisch mehr gegessen und es fehlte ihm nicht. Trotzdem würde er sich den Magen vollschlagen, ein frisches Glas O-Saft trinken und sofort ins Bett gehen. Morgen sollte dann alles wieder gut sein.

Lust auf exzessiven Alkoholrausch hatte er normalerweise nicht, aber das Jahr war ohnehin nicht normal gewesen. Und die durchsichtigen Flaschen versprachen nicht nur eine gemütliche Runde mit seinen zwei engsten Freunden, sondern malten einen ganz normalen Silvesterabend nach; so ganz emotional.
Üblicherweise hätte auch der normale Abend bei einem seiner engsten Freunde gestartet, sie hätten gekocht und getrunken, wären zur ersten Feier gefahren und hätten in der Bahn ein paar blöde Witze mit oder über Touristen gerissen. Die erste Feier hätte sie nicht angeregt, lange zu bleiben, und sie wären weitergezogen, zu anderen Freunden und dann in den Club. Bekanntlich verlor Barnabas spätestens dort all seine Freunde; entweder dort oder schon auf dem Weg dorthin. Und er hätte vielleicht jemanden in der Zwischenzeit kennengelernt, wäre mit der Person weitergezogen und hätte dann zufällig seine Freunde irgendwo wiedergefunden, entweder bei einer schon längst toten Feier, bei der das Lagerfeuer auf der Terrasse ausloderte, oder im schlimmsten Fall in der Tanzbar „Kumpelnest“.
Doch es war kein normales Silvester, und als Caspar bei Barnabas ankam, klirrten die Flaschen in dessen Rucksack. Yukon stand auf und holte schon die Gläser aus der Küche. Vor den drei halbvollen Gläsern tauschten sich die Jungs schelmische Blicke aus, bevor sie runterzählten, und die Lebern zu arbeiten begannen.
Um elf kotzte Barnabas zum ersten, dann zum zweiten, und nach dem dritten Mal ging er schlafen, kurz vor Mitternacht. Am nächsten Tag ging es ihm dreckig.

03. Januar 2021

Nimm den Eintrag oben nicht so ernst. Eigentlich geht es uns allen ja ganz gut.
Ich habe mir gestern ein Steak erlaubt. Seit 3 Monaten kein Fleisch mehr gegessen; War nice.
Ob es wirklich der Geschmack vom Fleisch war, weiß ich auch nicht, vielleicht einfach nur das Gefühl der Macht über ein anderes Lebewesen, ganz oben auf der Evolutionsleiter und dann schön runterrotzen.
Aber das musste mal sein, jetzt so zum Anfang des Jahres. Nur noch den kalten Januar überstehen.
Ich sollte mal Leyla anschreiben, da mir gesagt wurde, sie sei von ihrem Erasmus zurück und bleibe wahrscheinlich erstmal in Berlin.
So richtig verabschiedet hatten wir uns ja nicht.

Der Januar verflog, Leyla antwortete nicht. Dann kam die Omi aus Zehlendorf.

30. Januar 2021

Heute waren wir anbaden, in der Krummen Lanke, ich glaube so eine Art neuer Hype, der sich jetzt während der letzten Zeit medizinisch entfaltet, vor allem bei einigen Generationen über uns. Letztes Jahr war das kalte Wasser jedenfalls nicht so voll. Ich zwang mich damals auch nicht hinein.
Eine nette Omi aus Zehlendorf verfolgte den Hype ebenfalls.
Als wir (Caspar und ich) unsere Füße langsam ins Wasser zwangen, sahen wir dort einen Ball.
„Komm‘, wir holen den Ball und schwimmen wieder raus.“, sagte Caspar.
Ich willigte ein, wir gingen ganz langsam Richtung Ball, näherten uns diesem bibbernd, wir waren ganz nah. Plötzlich drehte sich der Ball um.
Der Ball war doch kein Ball, sondern die Badekappe der netten Omi aus Zehlendorf.
Sie lächelte uns an. Und wir erschraken zu Tode. Dabei gerieten wir ins Schaukeln, bevor wir beide schnell untertauchten, aus dem Wasser rannten und die nette Omi aus Zehlendorf lachend im Wasser zurückblieb. Ihr gesamter Körper, abgesehen vom Kopf, harrte lange im Wasser aus.
Wir haben lange gelacht, länger als an Silvester.
Sie blieb deutlich länger im Wasser. Als sie sich abtrocknete, kamen wir ins Gespräch, und während wir redeten, schlugen wir einen ähnlichen Weg nach Hause ein. Vor ihrer Tür brachte sie mir einen Kaffee raus.
Es war nett: Ich erklärte ihr, wer DjGigola und was Recup Becher waren, und sie erzählte mir von ihrem verstorbenen Mann, auch wie so langsam alle Menschen um sie herum starben. So sei das Leben, sagte sie. Dann versprach sie mir, dass sie noch zu einem DjGigola Set mitkäme, und ich versprach ihr, mit zum Grab ihres Mannes zu kommen; dabei lachten wir.

02. März 2021

Leyla hat immer noch nicht zurückgeschrieben. Und der Club, in dem ich sie kennenlernte, soll zumachen.
Wenigstens hat mich die Omi aus Zehlendorf grade zu einem Essen mit ihrem neuen Mann eingeladen. Nicht in Zehlendorf, sondern im beschaulichen Frohnau.

Das Essen verlief hervorragend, mittlerweile sahen sie sich wöchentlich, tauschten sich über ihre Welten aus, die zurzeit doch so ähnlich schienen, und Barnabas begann zu vergessen, dass er Leyla noch liebte.
Mit der Omi aus Zehlendorf ging er durch die angesagten, dennoch leeren Viertel der Stadt. Sie setzten sich in den Park, hörten auf zu reden, als Omi anfing zu lesen. Barnabas fand es witzig, sie zu fragen, ob sie ihm nicht vorlesen könne.
„Eigentlich müsste ich dir ja das Buch geben“, antwortete sie.
Sie tat es aber nicht, und so wurde das Vorlesen zu einem scherzhaften und zugleich ernst gemeinten Ritual. Jedoch immer mit Abstand.
Omi aus Zehlendorf hieß eigentlich Malwine, doch sie verriet ihren Namen ungern, fand, dass Omi besser passte. Ihre Enkelkinder waren zum Studieren aus der Großstadt in die Kleinstadt gezogen und sie verstand ihn nicht, diesen Trend hin zum Überschaubaren. Und sie war verärgert, dass ihre Enkelin Monika, die im fünften Semester ihr erstes Kind erwartete, nicht mehr zu Besuch kam.
Seitdem Monika nicht mehr kam, fiel es Malwine immer schwerer, die Mädchen und Jungen zu verstehen, die dort auf der Straße vor ihren Iphones tanzten. So war sie erfreut, dass Barnabas wöchentlich kam und aus der feminin wirkenden Umhängetasche von Cartier immer wieder sein Handy rausholte.


03. April 2021

Malwine und ich schicken uns jetzt auch Memes. Manchmal nimmt sie sich den Tag und erstellt sie selber. Mein liebstes Meme von ihr war dieses:
In der Überschrift steht „Wenn du post-pragmatic joy nicht ganz richtig verstanden hast…“ und darunter ein Bild von Armin Laschet, mit Lederanzug in der Berghainschlange. Klasse!

Malwine und Barnabas tranken Cold Brew in der Sonne, als es wärmer wurde und gingen erneut in die Krumme Lanke baden, allerdings bei humanen Temperaturen.
„So richtig Spaß macht das irgendwie nicht, wenn das Wasser nur so lauwarm ist“, sagte Malwine.
Mit dem Anbruch des Sommers wurden die Straßen wärmer und voller. Und so langsam brach auch die Normalität an.

28. August 2021

Lange hatten wir noch Angst, sie käme, und langsam wurde aus Angst Hoffnung.
Die dritte Welle kam nicht. Und dann war es soweit.
Wir saßen zusammen auf Bänken, eng an eng, aßen und tranken mit Malwine, ihren und meinen Freund*innen, und unsere lauten Stimmen vermischten sich im hallenden Innenhof.
Wir zogen angeheitert los und ließen uns durch Caspar leiten, mit Handy in der Hand und als Ziel ein Standort, der uns anzog. Mitten im Grunewald, nicht weit entfernt von Malwines Haus, kamen wir bei einer Kiesgrube an. Leute hatten Lichterketten über mehrere Bäume geschwungen, und die Musikanlagen hallten von oben in die Grube hinein. Oben spielte DjGigola ihr Set.
Ich tanzte neben Malwine, als sie zu mir sagte: „Ich habe das ja damals nur so gesagt, das mit DjGigola, aber wirklich dran geglaubt habe ich nicht“.
Sie strahlte und ich lächelte zurück.
Dann wurde es hell, und die meisten Menschen torkelten davon, so auch Malwine mit ihren Freundinnen, die sich nett verabschiedeten.
Ich war müde, aber blieb, setzte mich in den Sand an der Steigung der Grube und spielte mit dem Gedanken, meine Augen zu schließen. Sie schlossen sich von allein. Wenig später spürte ich einen warmen Körper, der sich neben mich in den Sand schmiegte und dann spürte ich auch die warmen Lippen des Körpers.
Es waren Leylas Lippen.
Und sie schloss ihre schwarzen Augen beim Küssen, im Moment, in dem ich meine Augen öffnete und Leyla wiedersah. Ich brach den Kuss ab, blickte in das Schwarz ihrer Augen. Sie lächelte.
Plötzlich erschrak sie, blickte sich um und streckte ihren Finger Richtung Wald.
„Dort drüben, ich hab das Grunzen gehört…….Da! Ich sehe‘ das Wildschwein, siehst du es auch?“, sie lächelt ein wenig beim Reden. Schmunzelnd schaute ich in die Ferne, doch mein Blick blieb verschwommen.
„Los! Auf! Wir müssen jetzt auf Jagd gehen, du bist doch einer von diesen Fleischfressern, oder nicht?“, Leyla sprang auf und rannte den Hang runter Richtung Wald. Ich musste lachen und raffte mich auf, um ihr hinterher zu rennen. Unten am Waldanfang suchte Leyla nach Holzstöcken, drückte mir zwei kleine in die Hand.
„Hier, deine Waffen“, flüsterte sie und berührte meine Hand. Mir gefiel die Berührung und auch ihr gefiel sie, das konnte ich sehen.
Dann rannten wir los, an Ästen und Sträuchern vorbei, rein in die Tiefen des Waldes.