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1. Preis: Allegra Bosch, Jack

2:13 PM

„Das macht 110, 80 Dollar.“
Ich hebe den Blick vom Handy zum Kassierer vor mir. Es ist ein stämmiger Mann um die sechzig, der mich unter seinen Schlupflidern aus kleinen, dunklen Augen mürrisch ansieht. Sein rundes Gesicht ist faltig und unrasiert, sein Haar bis auf eine Fast-Glatze herunter geschnitten. Der Mann trägt ein schwarzes, ausgewaschenes T-Shirt, dessen mit weißen, eng aufeinanderfolgenden Buchstaben gestaltende Aufschrift „NIRVANA – Welttournee ´92“ kaum zu entziffern ist und vom Stoff abblättert.
In seinem Rücken hängt eine altmodischen Werbetafel – ein Cowboy in der Wüste –,  die für Marlboro-Filterzigaretten wirbt und längst nicht mehr dort hängen dürfte. Links und rechts an der Kasse stapeln sich kleine Boxen mit Krimskrams für einen Dollar, quitschbunte Kugelschreiber und Schlüsselanhänger, sogar Batterien.
„Ich habe nur vier Gallonen getankt“, erwidere ich, „Sie müssen sich vertippt haben.“
„Die Preise sind gestiegen.“
„Aber letzte Woche noch – gleich hier in der Gegend, da -“
„Heute kostet die Gallone zehn Dollar siebenundsiebzig.“
Ich seufze gefügig. „Na gut. Ihre ID?“
„Es gibt keine ID.“
Ich blinzle, ein paar mal. „Und wie soll ich dann bezahlen? Etwa mit Kreditkarte?“
„Nein. Bar.“
„Bar?“, ich trete einen Schritt zurück und drehe mich um meine eigene Achse, „ist das hier ein Museum? Hab ich das Schild am Eingang übersehen?“
„Haben Sie das Geld oder nicht?“
„Einen Moment …“, murmle ich und sammle das letzte Bargeld zusammen, das in meinem Portemonnaie zu finden ist. Das lege ich vor ihn auf den Kassentresen. Wortlos schiebt der Mann die Münzen über die schmierige Tischplatte in seine Hand und wirft sie in die Kasse. Dann tippt er etwas in seinen Computer.
„Da fehlen noch einunddreißig Dollar vierundvierzig“, sagt er schließlich. 
„Einunddreißig? Das ist alles, was ich dabei habe.“
„Ihr Pech.“
„Aber ich bin verabredet – in Las Vegas, heute Abend! Ich bin bloß auf der Durchreise“, zum Beweis deute ich nach draußen zu der Zapfsäule, an der mein Wagen steht.
„Wenn diese Verabredung in Vegas stattfindet, kann es keine wichtige sein“, erwidert er nur.
Ich mache wieder ein paar Schritte zurück von der Kasse. Da fällt mir die große digitale Uhr auf, rechts neben dem Cowboy. Ihre Ziffern sind sehr groß und sehr grell: schon fünfzehn nach … schon sechzehn nach …
„Hören Sie“, wende ich mich erneut an den Mann, „sobald ich in Las Vegas bin, gehe ich in eine Bank und überweise Ihnen den fehlenden Betrag. Ist das ein Deal?“
„Nein.“
Verärgert klatsche ich mir die Hand auf die Stirn. „Es ist wirklich wichtig, bitte. Die einunddreißig Dollar … ach kommen Sie!“
Wie als Antwort holt er eine kleine, silberne Pistole unterm Tresen hervor und legt diese vor mir hin, so, als würde er sie einem Kunden präsentieren wollen. Der Mann schaut zur Schwingtür, dann wieder zur Pistole runter.
Ich schlucke plötzlich hart.„
Um halb fünf mache ich hier zu“, meint er mit ruhiger Stimme, „wenn Sie mir bis dahin im Laden ausgeholfen haben, lasse ich Sie weiterfahren.“
Eine Mischung aus Erleichterung und Empörung setzt sich in meinem Körper frei. Beim Ansetzen einer Antwort verschlucke ich mich an meiner eigenen Spucke, muss husten.
„Jack ist krank.“
„Jack?“, frage ich hüstelnd.
„Mein Mitarbeiter. Sie werden ihn vertreten.“
„Ich bitte Sie, Sie übertreiben doch!“ Schlagartig hält er seine Pistole in der Hand. Schweigend zeigt er mit ihr zu meinem Wagen, zur Tür und zurück. „Wenn Sie da durch gehen, Lady, schieße ich Löcher in Ihre Reifen, ehe Sie losfahren können. Haben Sie gehört?“

2:22 PM

Er stellt sich als George vor und trägt mir auf, das Regal gegenüber der unheilvollen Uhr mit Knabberzeugs aufzufüllen.
Gerade räume ich eine Ladung Stapelchips ein. „Sie sind wie in der Zeit stehen geblieben“, denke ich laut und drehe eine Röhre Chips in meiner Hand, „Pringles, früher gab´s die an jeder Ecke zu kaufen. Ich dachte, Junk-Food wäre verboten … wusste ich´s doch – das hier ist ein Museum! Soll ich den Eintritt nachzahlen? Oder ist der inklusive?“
„Ich wäre an Ihrer Stelle vorsichtiger.“
„Ist Jack wirklich krank?“
George ignoriert meine Frage.
„Nicht wichtig …“, ziehe ich den Satz sofort zurück.
„Jack ist mein Neffe.“
„Vergessen Sie´s, George … Sir.“
„Ach, wie vornehm“, er verengt die Augen zu engeren Schlitzen, „wie alt sind Sie eigentlich?“
„Eine Lady fragt man nicht nach ihrem Alter“, versuche ich souverän zu klingen.
Stumm wendet mir George den Rücken zu, ich mache mich wieder an die Pringles.
„Ist das aus einem Geschichtsbuch?“, höre ich ihn fragen.
„Nein, ein Hashtag.“

3:00 PM

Das dreimalige Piepsen kündigt die volle Stunde an.
Ich bin bei den Kaugummis. Diese soll ich ihrer Geschmacksrichtung nach in die Fächer eines Plastikaufstellers einordnen. Ananas besetzt derzeit den größten Platz davon. Schon komisch, wie viele Firmen es gibt, die Ananas-Kaugummis produzieren und von denen ich bisher nicht einmal etwas geahnt habe. Lauter Notname-Kram, George scheint ein geiziger Mann zu sein. 
„Machen Sie auch mal Pause?“, möchte ich wissen.
Mit monotonen Bewegungen wischt er mit einem penetrant nach Zitrone riechendem Abwischtuch über den Tresen. „Nur wenn´s brennt.“
„Da liegen Feuerzeuge.“
„Sind Sie mit den Kaugummis durch?“
„Alles fertig.“
„Dann machen Sie Pause.“ 
Ich lasse mich die Wand entlang auf den Fliesenboden gleiten und strecke meine Beine aus, ich bin ehrlich geschafft. Immerhin sehe ich von hier aus die Teufelsuhr nicht mehr. Aber mein Handyakku ist leer.
„Sagen Sie, haben Sie Kinder, George?“
„Einen Sohn“, antwortet er gedehnt, „lebt in Utah.“
„Hilft er Ihnen manchmal hier?“
„Paul ist Anwalt. Das ist ein seriöser Beruf.“
Ich nicke schnell. „Sicher. Aber ich dachte, wenn Ihr Neffe -“
„Jack ist nicht mein Neffe.“
„Ist er nicht?“
„Nein“, stellt George klar, „Jack arbeitet bei mir seine Sozialstunden ab.“
„Was, wirklich? Jack ist ein Fast-Knacki?“
Gespannt warte ich seine Antwort ab, doch er schweigt. Und lacht dann auf: „Gott, sind Sie naiv, und Leute wie Sie dürfen wirklich schon wählen gehen? Die scharfen Bleistiftspitzen, ich weiß ja nicht …“
„Ich bin volljährig!“
„Vergessen Sie das nur nicht Ihrem Chef zu sagen, wenn er Sie zum Abendessen ausführt.“
Mir bleibt kurz die Spucke weg. „Ich habe einen Freund, George, er heißt Mike – eine feste Beziehung! Und das ist sowieso Privatsache.“
„Las Vegas ist weit weg von Zuhause“, murmelt er amüsiert.

4:07 PM

Sie haben mich gar nicht gefragt, wie ich meinen Kaffee trinke.“
George verzieht das Gesicht zu einem Lächeln. „Da muss ich nicht fragen, das weiß ich auch so: Wenn die Kalorienzahl ins Minus geht, ist der Kaffee genau richtig.“
So schmeckt er leider auch. Ich schließe meine Hände um den warmen Pappbecher und deute mit dem Kopf auf sein T-Shirt. „Haben Sie die Jungs live gesehen?“
„´92 in Seattle.“
„Hat´s Ihnen gefallen?“
„Das hat es“, er beugt sich mit dem Oberkörper nach vorne und stützt seine Ellenbogen auf dem Tresen ab, „und Sie?“
„Ich steh nicht auf Retro.“
„Nein. Waren Sie auf einem Konzert? Das muss doch Ihre Generation getroffen haben, dieser Virus.“
Ich nicke. „Klar war ich auf einem Konzert, sogar auf mehreren. Virtuell eben. Manchmal hat mich diese ganze Distanz richtig genervt, wissen Sie? Lange Zeit habe ich meine Großeltern nur über den Bildschirm gesehen …  auch andere Verwandte – oder Freunde. Ich kann mich erinnern, der erste Tag, wo wir alle zurück in die Schule geschickt wurden, waren wir uns furchtbar fremd, irgendwie. Obwohl Kontakt bestanden hat, eigentlich jeden Tag – virtuell eben. In Anwesenheit vieler Menschen plötzlich fühlte ich mich verlegen … war eingeschüchtert, wollte nach Hause, mich bloß mit niemandem treffen, nur in mein Zimmer – mein kleines, sicheres Reich. Es hat ne Weile gedauert, bis ich da wirklich rausgekommen bin.
Aber das ist schon lang her. Wissen Sie, Mike hat mich neulich ins Theater eingeladen. Altmodisch, oder? Wir hatten eine ganze Loge für uns allein.“
Georges Mundwinkel zucken. „Ein Anfang, aber kein Rockkonzert.“
„Und?“
„Das ist nun mal nicht das Gleiche, Gwen, die ganze Atmosphäre … ich kann´s nicht erklären“, meint er und sieht durch das Fenster nach draußen. Ich folge seinem Blick.
Ein pinker Audi fährt vor und eine zierliche, blonde Frau in meinem Alter, engen Jeans und Blazer steigt aus. Ihr Blick haftet immerzu am Handybildschirm, auch, als sie auftankt, sich vom Wagen entfernt, die Schwingtür aufstößt und sich neben mich an die Kasse stellt.
Ich trete zur Seite, George lehnt sich zum Computer rüber. 
„Das macht 87, 55 Dollar“, sagt er.
Verstört schaut sie zu ihm auf. „Sind Sie verrückt? Ich habe kaum was getankt!“
„Preise sind gestiegen und zahlen geht nur bar.“
Interessiert beobachte ich das Pochen der Ader an ihrer Schläfe. „Aber … Sind Sie -“
„Haben Sie das Geld oder haben Sie es nicht?“
„Natürlich nicht!“, ruft die Frau wie selbstverständlich aus.
Es bleibt kurz ruhig.„
Um halb sieben mache ich hier zu“, erwidert George, „wenn Sie mir bis dahin im Laden ausgeholfen haben, dürfen Sie weiterfahren.“
Beinahe muss ich lachen.
„Gwen, wenn Sie sich kurz in die Liste unter Jack Millhouse eintragen würden“, ich könnte schwören, dass er mir zugezwinkert hat, „als kleine Erinnerung an den netten Nachmittag … Grüßen Sie Mike von mir.“
Sie guckt mich bissig an. „Wie jetzt? Und wer sind Sie?“
„Das ist Gwyneth, meine Mitarbeiterin, und krankgemeldet.“
Krank“, schnaubt die Frau, „sehe ich etwa nach -“ „Wenn Sie durch meine Tür gehen, ohne bezahlt zu haben, Lady, schieße ich Löcher in Ihre Reifen, ehe Sie losfahren können. Alles klar?“